GERDA STEINER & JÖRG LENZLINGER

COPAIN   

FRAC Marseille 2021 / Mühlerama Zürich 2022

 


Backen macht glücklich. Kunst kann das auch. Von Mathias Balzer

Eine lang angelegte Recherche

Auf ihren Recherchen entdeckten die Künstler in Marseille auf den Märkten der maghrebinischen Einwanderer deren vielfältige Backkultur, in einer Museumsausstellung den Reichtum an Brotformen rund um das Mittelmeer. Das Thema war gesetzt. Sie begannen ihre Recherchen zur Geschichte und Politik des Weizens, zu unterschiedlichen Anbau- und Backformen, fingen an Brote zu sammeln – und zu erfinden. Die daraus entstandene Ausstellung «Copains» haben sie nun für Zürich adaptiert und weiterentwickelt.

Das Mühlerama in Zürich ist selbstredend der richtige Ort, um über Weizen und Brot nachzudenken. Die 1986 in ein Museum umgebaute Industriemühle aus dem Jahr 1913 ist an sich schon ein sehenswertes, architektonisches Wunderwerk, das sich über vier Stockwerke erstreckt. In den rundherum angesiedelten Räumen breitet sich nun Steiner/Lenzligers Brotuniversum aus. An seinem Eingang steht ein Altar, die Ouverture zum Rundgang. Back- und Ernteutensilien, Weizensorten, getrocknete Ähren, Kornblumen, aber auch wuchernde Kristallisationen aus Düngemittel, Industrieprodukte wie Aromat, Bilder traditioneller und industrieller Anbau und Verarbeitungstechniken. Die Komplexität des Themas ist hier bereits ausgebreitet. Brot ist immer auch Politik.

Gerda Steiner erzählt, wie sie bereits 1998 auf einer Indienreise damit konfrontiert wurden. Damals begannen die landesweiten Demonstrationen gegen die Monopolisierung des Saatguts. Wer Brot hat, hat Macht. Das ist aktuell auch an der Weizenkrise abzulesen, die der Ukraine-Krieg auslöst. Die politische Dimension des Brots zieht sich denn auch durch die ganze Ausstellung, von der Brot- und Spiele-Politik der Römer bis zur aktuellen politischen Instrumentalisierung des Nahrungsmittels im Nahen Osten. Ebenso wird unsere Entfremdung vom alltäglichen Brot thematisiert, ausgelöst durch die industrielle Massenproduktion. Was früher von der Ernte bis zum Dorf-Ofen ein soziales Gemeinschaftswerk war, ist heute Sache der Roboter und Lebensmitteldesigner.

Politisch denkende Poeten

Im Mühlerama sind aber nicht politische Aktivisten am Werk, sondern zwei politisch denkende Poeten. Was sie über vier Stockwerke ausbreiten ist vor allem auch eine Feier des Brots, eine überschwängliche Hommage an den Reichtum von Formen, Traditionen und Backweisen. Bei unserem Besuch sind die Künstler mit dem Feinschliff beschäftigt, vor allem mit der Verteilung der Texte, die neben den beinah 1000 (!) versammelten Broten die zweite Inspirationsebene bilden. Ein Balance-Akt, zu dem Jörg Lenzlinger sagt: «Wir müssen schauen, dass wir nicht zu viel Hunger zeigen. Es braucht auch etwas Schlaraffenland.» Denn das ist die Ausstellung in der Tat, ein veritables Brot-Universum.

Da gibt es die realen Brote. Etwa den Tisch mit Broten aus Zürcher Bäckereien, verbunden mit deren Geschichte. Oder die Sammlung von Broten aus dem arabischen und asiatischen Raum. Oder diejenige aus Frankreich, aus der Innerschweiz, die Brote aus Russland, aus Italien, die Sammlung von Hostien, das Agathenbrot, die dreibrüstige Brotgöttin aus Frascati oder den «Schweizer» aus Valence. Unter diese an sich bereits erstaunliche Sammlung mischen sich Fantasie-Brote wie etwa: das Schaumstoffbrot, das Erd- und das Teerbrot, das Brot mit eingebrannter Fernbedienung, das psychedelische Brot mit Mutterkornzusatz, das Golfrasen- oder das Einzeller-Brot.Die dritte Abteilung sind die Künstler:innen-Brote wie: «Aus der Backstube des Denkens» von Peter Radelfinger, «Geschnitztes Brot» von Rochus Lussi oder das «Blökende Brot» von Kuno Schaub.

Zur Interaktion laden die Künstler im Brösmeli-Labor, wo die Besucher:innen Brotkrumen unters Mikroskop legen und die Bilder ausdrucken können. In der stockdunklen Brotdegustationskabine darf man sich ganz und gar auf den Geschmack von Brot konzentrieren.

Die oben genannten Texte zum Thema formen eine kunterbunte Zettelwirtschaft aus realen und surrealen Titeln, seriösen Informationen, kalauernden Wortspielen, poetischen und sakralen Sinnsprüchen. Jiddi Krishnamurti, Laotse oder Hermann Hesse kommen ebenso zu Wort, wie wissenschaftliche oder historische Quellen.

«Backen macht glücklich – und ist auch eine der Kunst verwandte Tätigkeit», sagt Gerda Steiner während dem Rundgang. «Kunst kann glücklich machen», könnte man entgegnen, sofern man den Zustand der Inspiration als Glück empfindet. Das (Back-)Rezept zur Kunst von Steiner und Lenzlinger funktioniert auch zum Thema Brot. Ihre Mischung aus Faktischem, Kommentar, Fantasie, Verspieltheit, politischer Haltung, Spiritualität und Humor bereitet uns einmal mehr einen Weltzugang, bei dem Komplexität nicht überfordernd, sondern bereichernd wirkt. Am anderen Ende der Stadt, im Friedhof Forum Sihlfeld, gelingt es ihnen sogar das lebensspendende Brot mit dem Tod zu verknüpfen.