GERDA STEINER & JÖRG LENZLINGER

Schönheit, die standhält
Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger verwandeln die Kirche San Staë in ein Kunstwerk,
das nichts fordert und einen reich beschenkt.



Von Rolf Bismarck und Claudia Spinelli, 2003

„Wo sucht' ich anders wohl solch müder Schönheit Milde, die nicht dein lieber Leib, dein gütig Herz geschenkt? Neu wecken kann ich mir der holden Zeit Gebilde!“ Es ist ein feierlicher Ort, an dem sich Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger daran gemacht haben, Baudelaires Worte in die Tat umzusetzen.

Selbst der nüchterne Realist wird von der wunderbar lichten Stimmung in der Kirche San Staë eingefangen. Bereitwillig werden die Schuhe ausgezogen, um auf leisen Sohlen die Entdeckungsreise durch den Fundus der „Fallenden Gärten“ zu machen. Von der Kirchendecke hängen bunte Plastikblumen, echte Blüten, Vogelfedern, Samen, Zweige und noch vieles mehr. Unten sind die Fund- und Sammlerstücke noch gut erkennbar, genauso wie der Faden an dem sie hängen. Der Blick folgt den dünnen Nylonschnüren, so lange bis sich ihre Spur in der Höhe des einstigen Sakralraumes verliert. Doch sie müssen da sein, weil die Teile von selber nicht schweben können – auch wenn die kleinen Vogelknochen einmal zum Fliegen bestimmt gewesen waren. Der Blick springt hierhin und dorthin, er hangelt sich immer höher, und irgendwann, schon beinahe an der Decke, lässt sich nicht mehr erkennen, was dieser rosarote Fleck oder jenes grüne Teil sein könnte. Wenn das Auge bereits wieder ein buntes Nächstes fokussiert, dann überlagern sich die Eindrücke zu einem berauschenden Erlebnis. Nicht die Ratio ist angesprochen, sondern Phantasie, Erinnerung und Gefühl.

Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger entziehen sich mit beneidenswerter Konsequenz den vermeintlichen Anforderungen einer vernunftgeprägten Wirklichkeitserfahrung. Dass unter dem Kirchboden auch ein Doge begraben liegt, das hat die beiden Künstler nicht gestört. Im Gegenteil: ein Loch im weissen Teppich legt den Blick auf seinen Schädel frei. Seine einstige Macht ist mit ebenso viel liebevoller Sorglosigkeit gebrochen, wie die düstere Macht der Kirche, in der sich die zwei völlig ungezwungen bewegen. Die Bilder, die Stimmungen, die Skulpturen, die sie aufbauen, sind keine verlogene, bunte Kitschwelt, sondern eine Offensive gegen diejenigen Kräfte, die einen daran hindern wollen, das Leben in seiner tatsächlichen Schönheit zu erkennen. Das gelingt ihnen in Venedig perfekt, selbst bei den vom morbiden Charme der eigenen Stadt verwöhnten Einwohnern. „Für uns war es wichtig, dass auch die Venezianer in die Kirche kommen. Solche, die die Kirche noch von früher kennen, etwa weil sie hier geheiratet haben. Schon während den Aufbauarbeiten haben uns die Frauen der Umgebung besucht und auch die Arbeiter von der Baustelle unmittelbar vor der Tür waren hier. Manchmal kamen wir uns vor wie in einem Fellini-Film.“

Solche Begegnungen und Geschichten entwickeln sich überall, wo Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger am Wirken sind. Sie beschwören Erinnerungen und spielen mit Phantasien, die ihre Energie aus einem ungebrochenen Glauben an das Gute beziehen. Wie zum Beispiel in diesem Frühjahr in der spanischen Hauptstadt, als sie die Frage stellten: Wie kam das Walross nach Madrid? Unter anderem wurde mit vier spanischen Schriftstellern zusammengearbeitet, um einem Walross, das im Depot des Naturhistorischen Museums einsam vor sich hin „vegetierte“, eine Geschichte zu geben. Am Ende schrieb selbst Spaniens grösste Zeitung „El Pais“ nicht mehr von einem ausgestopften Walross, sondern von Lolita und ihren imaginären Reisen, die sie zu den Hors-Sol-Plantagen in Andalusien, nach Osteuropa oder Marokko führten.

Was auf den ersten Blick so leichtfüssig, beinahe banal daherkommt, formuliert tatsächlich die wohl zentralste künstlerische Forderung, Ordnungen auf den Kopf zu stellen. Nicht von ungefähr verströmt in der Mitte von San Staë ein riesengrosses Kissen angenehmen Lavendelduft. Man kann sich hinsetzen oder – wenn man will – gar alle Viere von sich strecken und den Blick ungehemmt schweifen lassen. Der künstlerische Anspruch von Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger kommt als Reflexion über das eigene Selbstverständnis zum Tragen, das gerade angesichts der Konfrontation fremder Mentalitäten und Kulturen zu bestehen hat. Sie entwerfen einen positiven Erlebnisraum, jenseits von Romantik, engagierter Ökologie oder naturwissenschaftlicher Analyse. Über den eigenen Kunstbegriff wird nicht theoretisiert, er wird positiv gelebt. „Was kümmern Torheit mich und seelenlose Kühle? Ob Maske oder Zier - dich, Schönheit, bet ich an!“ (Baudelaire: Die Blumen des Bösen)

Erschienen in Kunst Bulletin 8/2003